SOMEDAY MISTER PRINCE WILL COME

Harold Prince in der Neuköllner Oper. Ein skurriler Gedanke. Und wieder eines dieser merkwürdigen „Wunder von Neukölln“, die seit zehn Jahren in unserem Hause alle möglichen Dinge zusammenzwingen, die eigentlich nicht zusammenpassen und gerade darum so irritierend vitale Funken schlagen. „The Grand Old Man“ of American Musical setzt sich in die U-Bahn Linie Sieben und steigt Karl-Marx-Straße aus, um in der Neuköllner Oper einen Workshop zu geben und zwei Tage aus seinem Leben zu erzählen. Hätte mir das jemand vor zehn Jahren erzählt, ich hätte es ihm nicht geglaubt.

Harold Prince: Wohl kaum ein Name ist mir auf meinem Weg vom amerikanischen Musical zur Neuköllner Sozialkomödie mit Musik öfter untergekommen. Nahezu jedes Musical, dass mich beeindruckt hat, jeder Komponist und Autor, von dem man gedacht hatte: So möchte ich es auch irgendwann einmal können, fast jede Produktion, die ein bisschen anders als die anderen ist, ist mit diesem Namen verbunden.

Zuerst noch ohne Gesicht, mit dieser für deutsche Ohren ungewöhnlichen Berufsbezeichnung „Producer“, irgendwann fasslicher als Regisseur. Darunter kann man sich schon mehr vorstellen. Und schließlich als nicht mehr wegzudenkende Größe in der Welt des Musicals. Denn das ist Harold Prince. Eine nicht mehr wegzudenkende Größe in diesem merkwürdigen Gerne, mit dem ich mich seit zwanzig Jahren täglich herumschlage und aus dem ich zum Glück bis jetzt immer noch nicht schlau geworden bin.

Harold Prince kommt.

Die Nachricht frisst sich langsam durch die Neuköllner Oper und durch die Universität der Künste, wo Stanley Walden 1990 den Studiengang „Musical/Show“ gegründet hat. In diesem Studiengang wird seit vierzehn Jahren eifrig an der fast unmöglichen Synthese von amerikanischer Leichtigkeit und deutschem Ernst gearbeitet, eine quasi europäische Variante des uramerikanischen Genres Musical.

Drei Wochen zuvor erst hatte der neueste Versuch zu diesem Thema an der Neuköllner Oper seine Uraufführung erlebt: „Panik Sound Club“: die Geschichte der Neuberlinerin Mo, die sich durch ihre ersten zehn Wochen in Berlin und ebenso viele merkwürdige Großstadtcharaktäre schlägt, um am Ende zu merken, dass man verdammt viel in Berlin schaffen kann, aber verdammt wenig davon alleine.

Wer da an „Company“ denkt, denkt nicht ganz verkehrt, und die Darsteller, allesamt Studenten im vorletzten Jahr der Ausbildung, freuen sich, dass so viele Menschen dieses düstere Stück sehen wollen. Aber die eigentlich spannende Frage ist plötzlich natürlich nur noch: Wird Harold Prince es auch sehen wollen? Und vor allem: Was wird er sagen?

Das fragen sich nicht nur die Studenten. Komponist Niclas Ramdohr und ich fragen uns das auch. Da kann man noch so lange in Deutschland Musical machen, noch so klar erkannt haben, dass Theater egal welcher Provenienz immer nur funktioniert, wenn es für den Ort gemacht ist, an dem es stattfindet, für die Künstler, die es spielen und das Publikum, dass es sehen und begreifen soll. Soviel haben wir dann doch alle über den großen Teich geschielt und versucht, über diese große Distanz zu lernen, abzugucken, nachzumachen und auf deutsche Verhältnisse zu übersetzen, dass man doch gerne wüßte, was so ein Urgestein des Genres zu unserem Angebot meint.

Wenn man sich in Deutschland mit dem Genre Musical beschäftigt, sitzt man fast permanent in der Zwickmühle. Das, was einen ursprünglich begeistert hat, was einen dazu getrieben hat, diesen unmöglichen Job zwischen Gesang, Tanz und Schauspiel anzutreten, waren und sind immer noch amerikanische Vorbilder. Nur mühsam hat man die europäischen Wurzeln dieses Genres ausgemacht, ist mehr als einmal zähneknirschend zurück auf Los gegangen und hat versucht, diese Leichtigkeit für unsere Verhältnisse neu zu erfinden. Ist daran gescheitert, hat auf den merkwürdigsten Nebenschauplätzen seinen Goldklumpen gefunden und ist auch noch im Jahre zwanzig nach Null so unwissend und neugierig wie ein Anfänger.

Und jetzt wird Harold Prince kommen und aus dem Nähkästchen plaudern. Da wird man endlich jemanden erleben, der weiß, wie man‘s macht. Und wir werden wieder schielen und lernen und nachmachen und dann endlich wissen, wie es geht. So ist es, Gott sei Dank, nicht gekommen.

Erste Begegnungen

Die erste Musical-Schallplatte, die es 1980 in die Flensburger Schallplattenläden geschafft hatte, war „CABARET“. 1980 war ich vierzehn und längst schon angefixt vom Musical durch das gute alte ZDF und seine Nachmittagsreihe mit dem unnachahmlichen Titel: „Des Broadways liebstes Kind“.

Aber dieses „Cabaret“ war anders als alles, was sonst so über den Fernseher geflimmert war. Es spielte nicht am Broadway, wo doch alle amerikanischen Musicals spielen, sondern in Berlin. Die Geschichte war viel zu ernst und für ein Musical viel zu politisch, und wenn Joel Grey in die Kamera flüsterte: „Sie sieht gar nicht jüdisch aus“, verschluckte man sich vor Schreck, denn über dieses Thema machte man keine Witze, das hatte man gut gelernt. Und wenn bei „Hello Dolly“ und Fred Astaire der beunruhigte Elternblick auf einem ruhte, was aus diesem musicalbegeisterten Jungen bloß mal werden soll, saß man bei „Cabaret“ plötzlich in ganzer Familienrunde vor dem Fernseher und einhellig wurde nachher genickt: Das sei ja mal ein richtig guter Film.

Ein Jahr später Urlaub in Berlin. Ein Tagesausflug mit der ganzen Großfamilie rüber in den Osten, und Großmutter wird ganz weiß um die Nase, dass sie jetzt einen ganzen Tag zu den Russen soll. Abends in der Komischen Oper „Anatevka“, in der legendären Felsenstein-Inszenierung, fast zwanzig Jahre alt und angemessen misstrauisch sitze ich als fünfzehnjähriger selbsternannter Theaterfachmann in der vierten Reihe. Das wird schon was werden mit so einer ollen Kamelle.

Drei Stunden später kommt die ganze Familie heulend aus dem Theater. Für drei Stunden waren wir nicht in Berlin, sondern tatsächlich in Russland. Haben mit Tewje über seine Töchter geschimpft, sind mit Hodel nach Sibirien gegangen und haben miterlebt, wie ein ganzes Dorf seine Heimat verliert. Das soll ein Musical sein? Meiner Großmutter ist egal, was es ist, für sie war es einfach der schönste Theaterabend ihres Lebens.

Und noch ein Familienurlaub, ein paar Jahre später in London. Während der Rest der Familie die Kronjuwelen in Angriff nimmt, bin ich nicht zu halten. Mit dem festen Vorsatz, ein großer Musicalregisseur zu werden, rase ich durchs Westend und dank der segensreichen Einrichtungen der Matineen kann ich zwei Shows auf einmal sehen. Das ist auch gut so, denn das meiste, was ich sehe, enttäuscht mich.

Altmodische Bühnenbilder, die ich genauso vom Flensburger Stadttheater kenne, viel Boulevardgelächter und behäbiges Herumgestehe, dazwischen atemberaubende Stepnummern und beeindruckende Bühnentechnik, aber nichts passt so richtig zusammen und ziemlich dämlich finde ich die meisten Stücke auch.

„Follies“ ist anders. Die Bühne eine staubige Baustelle, von dem Komponisten habe ich noch nie etwas gehört, und was ein Follie ist, weiß ich schon mal überhaupt nicht. Entsprechend skeptisch sitze ich auf meinem viel zu teuren billigsten Platz, hundert Meter Luftlinie zur Bühne, und bereite mich seelisch auf die nächste halbe Enttäuschung vor, und dann beginnt die Show.

Wo kommt plötzlich diese riesige Revuetreppe her? Und darauf diese endlose Reihe von Stars, angekündigt von einem Tenor, der singt wie Johannes Heesters. So muss das damals im Admiralspalast gewesen sein. Die Musik klingt wie früher, aber irgendetwas stimmt nicht.

Die Girls auf der Treppe sind definitiv nicht mehr zwanzig, die Revuetreppe hat auf dieser Baustelle rein gar nichts verloren, und plötzlich bin ich mittendrin in dieser Geschichte über geplatzte Träume, verpasstes Leben und die böse Erkenntnis, dass das Leben nur insofern eine Revuetreppe ist, als das beide immer nur abwärts gehen.

Und diese traurige Geschichte wird erzählt mit allen Mitteln des großen Musicals, mit Swing und Step, riesigen Shownummern und tieftraurigen Balladen. Drei Stunden lang erlebe ich einen der wenigen Theaterabende in meinem Leben, die mich wirklich beeinflusst haben, und mein letztes bisschen Restverstand denkt nur noch darüber nach, wie man so was einmal in Deutschland machen könnte: ein Vergangenheitsbewältigungs-Musical mit all den Ufa- Überlebenden, die eine große Treppe herunterkommen und davon singen, warum sie damals das gemacht haben, was heute so schrecklich falsch gelaufen ist.

Das wäre doch mal eine andere Aufgabe für Marika Rökk, als bei „Musik ist Trumpf“ als Julischka über die Bühne zu steppen.

„Cabaret“, „Anatevka“,„Follies“. Drei sehr besondere Musicals. Natürlich nicht die einzigen, die mich begeistert haben, aber drei Theatererlebnisse, die mich beeindruckt, wenn nicht sogar geprägt haben. Dass ich diese drei Erlebnisse zu einem guten Teil demselben Mann zu verdanken habe, wusste ich damals noch nicht. Und selbst, als der Name Harold Prince immer öfter in irgendwelchen CD-Booklets und Künstlerbiographien auftauchte, habe ich mir wenig Gedanken darüber gemacht, welche Funktion dieser dubiose „Producer“ bei diesen Musicals wohl gehabt haben mag.

Einflußnahme

Wenn ich im Folgenden darüber schreiben will, wie Harold Prince meine Arbeit beeinflusst hat, ist das im doppelten Sinne ein mittelbarer Einfluss. Viele seiner Produktionen habe ich nur am Westend in der englischen Fassung erlebt und kenne die Originalproduktionen nicht.

Was diese Stücke auszeichnet, weiß ich. Welcher Anteil an Innovationen davon Harold Prince zuzuschreiben ist, kann ich als jemand, der das amerikanische Produzententheater lediglich aus Büchern kennt, nur vermuten. Ich glaube, es ist ein sehr großer Teil.

Als Ergebnis dieses mittelbaren Einflusses kann ich nur meine eigene Arbeiten und Erfahrungen ins Feld führen kann. Dabei muss ich zugeben, dass viele der Dinge, die wir in den letzten zehn Jahren an der Neuköllner Oper erfunden und entwickelt haben, sehr intuitiv und oft auch aus der Not heraus entstanden. Aber immer wieder hat es mich überrascht, wie oft wir in unseren Produktionen auf ähnliche künstlerische Probleme gestoßen sind, wie sie Harold Prince in seinen biographischen Erinnerungen anspricht. Und nicht selten hat mich diese Ähnlichkeit der Themen darin bestätigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

Diese Einflussnahme „per Nachnahme“ darf man nicht unterschätzen: Es liegt ein großer Trost darin zu wissen, dass jemand vor einem mit den gleichen Problemen zu kämpfen hatte. In Harold Princes speziellem Fall geht diese Einflussnahme aber noch weiter. Seine Biographie ist eine gelebte Aufforderung, auch dann unverdrossen weiter zu machen, wenn der erhoffte Erfolg einmal ausbleibt. Und nicht zuletzt macht mir diese zeitverschobene Parallelität Hoffnung, dass es uns (mit fast fünfzig Jahren Verspätung) doch noch gelingen könnte, ein authentisches deutsches Musical zu erfinden.

Musical made in Germany

Um diesem Ziel näherzukommen, gilt es, Harold Princes Werk darauf abzuklopfen, welche seiner Arbeitsweisen und künstlerischen Wege für uns auf Deutschland übertragbar sind und welche andererseits für uns nicht gelten können, weil sie entweder in unserer Theaterlandschaft nicht praktikabel oder immanent auf den amerikanischen Kulturkreis zugeschnitten sind. Dass diese Fragestellung teilweise am Beispiel der Neuköllner Oper abgehandelt wird, mag im Größenvergleich etwas grotesk anmuten: Der gesamte Broadway im Vergleich zu einem 250-Plätzehaus in einem Berliner Arbeiterbezirk.

Aber eine Gemeinsamkeit gibt es dann doch. Die meisten erfolgreichen Musicaluraufführungen in Amerika hat Harold Prince produziert. In Deutschland ist das die Neuköllner Oper.

Wenn man sich die Frage stellt, warum es in Deutschland mit dem Schreiben von Musicals nicht so recht klappen will, kommt man ziemlich schnell zu der einfachen Einsicht, dass das Musical ein zutiefst angloamerikanisches Genre ist und demzufolge auch nur Menschen aus diesem Kulturkreis den nötigen Horizont besitzen, auf diesem Gebiet überhaupt Neuland zu vermuten.

Wer tief im Tal zwischen „Cats“, „Phantom der Oper“ und „Les Miserables“ sitzt, muss wohl erst einmal auf den Berg hinaufsteigen, um überhaupt auf die Idee zu kommen, dass es hinter den jetzigen „Großmusicals“ noch Länder zu erobern gibt. Deutschland müht sich nach Kräften, auf diesen Berg zu kommen, und mit „Elisabeth“ waren wir schon fast einmal auf einem solchen Gipfel. Leider steht da auch schon ein amerikanisches oder britisches Fähnchen und lacht uns ins Gesicht. Brav haben wir das gemacht, und oben angekommen sind wir auch irgendwie. Aber die Ersten auf dem Berg waren wir definitiv nicht.

Nicht umsonst ist das einzige wirklich erfolgreiche deutsche Musical „Linie 1“, die keine Zeit damit verschwendet hat, sich auf den ausgetretenen internationalen Aufstieg zu machen, sondern sich sehr frech ihren eigenen U-Bahn-Tunnel quer durch die letzten zwanzig Jahre deutscher Geschichte gefressen hat. Und siehe da: Licht am Ende des Tunnels, wo es keiner erwartet hat. Durch welchen Tunnel ist Harold Prince gefahren, als er Company „entdeckt“ hat?

Der Künstler als Produzent

Natürlich könnten die Verhältnisse gar nicht verschiedener sein: Wir befinden uns hier und heute in einer bedrohten Theaterlandschaft ohne jede Bereitschaft zum finanziellen Risiko, für die das Musical allenfalls der zähneknirschend auf den Spielplan gesetzte Kassenfüller bedeutet. Das war 1950 in New York noch anders: Als Harold Prince vor fünfzig Jahren antrat, das amerikanische Musical zu revolutionieren, war der Broadway eine noch funktionierende Theaterindustrie, das Bookmuscial auf der Höhe seiner Zeit, und neue Stoffe wurden eifrig gesucht und mit etwas Glück relativ billig produziert.

Harold Prince sagt selbst über die damaligen Verhältnisse, dass es leichter war, ein Musical zu produzieren, und dass er sich nicht sicher ist, ob es ihm unter heutigen Umständen noch einmal gelänge, so mutige und innovative Projekte auf den Weg zu bringen. Aber diese Überlegung ist insofern müßig, als dass sie kaum nachprüfbar ist. Ausschlaggebender ist für mich die Tatsache, dass Harold Prince den Mut gehabt hat, diese innovativen Projekte zu wagen, und dieser Mut muss damals ganz beträchtlich gewesen sein.

Denn bei allen Unterschieden gibt es doch einige Parallelen zu unserer heutigen restriktiven Situation: Ähnlich wie wir heute ehrfürchtig erschlagen vor den allgegenwärtigen, unendlich spielenden Großproduktionen stehen und nicht wissen, wie wir nach „Les Mis“ und Co weitermachen sollen, dürfte Harold Prince sich damals überlegt haben, was nach Rodgers und Hammerstein überhaupt noch kommen könnte.

Die Position dieses legendären Teams dürfte im Sektor „ernstzunehmendes Musical“ ähnlich marktbeherrschend gewesen sein wie die von Andrew Lloyd Webber vor zehn Jahren. Dass Harold Prince als Produzent nie versucht hat, auf diesem Erfolgsweg weiterzugehen, ist eines seiner großen Verdienste und könnte uns einiges darüber erzählen, wie neugierig und mutig man sein muss, um in ein so schwerfälliges, weil kompliziertes Genre wie das Musical eine Bresche zu schlagen.

Es ist sicher nicht so gewesen, dass alle Welt auf die „West Side Story“ gewartet hat. Obwohl Bernstein als Komponist nach „On the Town“ und „Wonderful Town“ gut am Broadway eingeführt war, wollte dennoch kein Produzent sich an ein Stück wagen, dass den ersten Akt mit zwei Leichen beendet und das bis auf die beiden Nummern „America“ und „Officer Krupkin“ völlig frei von Humor ist.

Die Entscheidung, das Stück sehr realistisch mit jungen, unbekannten Darstellern zu besetzen, war für Broadway-Verhältnisse revolutionär, und wenn man bedenkt, dass sogar der große Richard Rodgers zähneknirschend die immer etwas zu tief singende Gertrude Lawrence für „The Kind and I“ akzeptierten musste, um einen Star in der Show zu haben, kann man sich in etwa vorstellen, welche Kämpfe Prince ausstehen musste, um dieses ambitionierte Werk mit seinem „All-Non-Star-Cast“ bei seinen Finanziers durchzubringen. Der Lohn der guten Tat: Der Tony 1956 ging nicht an die „West Side Story“, sondern an den „Music Man“, einem Musical, das noch heute gerne in amerikanischen Highschools gespielt wird, wo es meiner Meinung nach bestens aufgehoben ist.

Ob wir hier in Deutschland heute mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, ein düsteres, politisches und sozialkritisches Stück an einem Theater unterzubringen? Man sollte es eigentlich nicht glauben: Der kulturkritische Auftrag unserer hochsubventionierten Theaterlandschaft wird immer wieder händeringend beschworen, das Schauspiel im Vergleich hat weiß Gott keine Berührungsängste, politische Themen anzufassen, und Zuschauerauslastung ist bei uns bis an die Schmerzgrenze zweitrangig.

Dennoch kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass ich mit einem Stück wie „Der Spielverderber“, einer Backstage-Geschichte, die im Dritten Reich angesiedelt ist, hierzulande die allergrößte Mühe hatte, es unterzubringen. Ein musikalisches Format, das wie „Kiss me Kate“ funktioniert, aber gleichzeitig die Schrecken des NS-Terrors thematisiert? „Unmöglich, geschmacklos, nicht angemessen“, das sind noch die mildesten Kommentare, die man sich in einem solchen Fall anhören darf. Und natürlich immer wieder das Totschlagargument: „Musical kann so etwas nicht leisten“.

Kann es natürlich doch. In diesem Fall hat daran nur die Neuköllner Oper geglaubt, und so kam es zu meiner ersten Begegnung mit diesem Haus, und „Der Spielverderber“ konnte endlich erfolgreich über die Bühne gehen. Alte Ufa-Stars erinnern sich an damals, kommen eine große Revuetreppe hinunter und steppen sich durch eine Geschichte, die einen von ihnen am Ende das Leben kosten wird. Die Idee dazu hatte ich mir sechs Jahre vorher bei „Follies“ geklaut. Vielen Dank dafür, Mister Prince.

Was aber hindert unsere heutigen „Produzenten“ daran, eine ähnliche Risikobereitschaft an den Tag zu legen wie Harold Prince vor nunmehr fünfzig Jahren? Man möchte Ihnen fortwährend zurufen: „Traut euch doch mal!“ - wenn es nicht so zeitaufwendig und nutzlos wäre.

Harold Prince hat einen anderen Weg beschritten: Anstatt Produzenten mühsam zu überzeugen, ist er einfach selber einer geworden. Diesen Weg kann ich aus eigener Erfahrung nur empfehlen. Ob es bei Harold Prince dieselbe Not war, sich für diesen Weg zu entscheiden, kann ich nicht beurteilen. Immerhin sagt er selbst von sich, er sei nur Produzent geworden, um inszenieren zu dürfen. So explizit kann ich das von mir nicht behaupten, aber ich weiß, dass „Das Wunder von Neukölln“, die Geschichte von einem mongoloiden Kind, das zu einer nationalen Berühmtheit avanciert, nirgendwo sonst produziert worden wäre als in der Neuköllner Oper. Und dort auch nur, weil ich mittlerweile als ein Mitglied des Direktoriums mit über die Gelder verfügen durfte.

Auch hier haben wir an der Neuköllner Oper eher unfreiwillig eine amerikanische Situation „nachgespielt“, von der ich erst im Nachhinein begriffen habe, dass sie ziemlich genau der Position eines klassischen „Producers“ entspricht. Ein Mensch, der genau an der Nahtstelle von künstlerischem Wollen und Verfügbarkeit der Produktionsmittel sitzt und damit auch riskantere Projekte durchsetzen kann. Wenn diese Position, wie im Falle Harold Prince, visionär besetzt ist, ist das ein Glücksfall für das Theater. Diese Situation kann man natürlich nicht erzwingen. Aber man darf sie sich wünschen.

Es hat natürlich eine gewisse Logik, dass dort, wo ein einzelner Künstler sich bereit erklärt, sich finanziell und organisatorisch mitzuverantworten, sein Einfluss und damit seine Gestaltungsmöglichkeiten wachsen. Damit wächst in gleichem Maße die Chance, dass wirklich künstlerisches Neuland betreten wird. Das war bei Offenbach und seinen Bouffes Parisienne nicht anders als bei Richard Rodgers, der sich in den vierziger Jahren ebenfalls größtenteils selbst produzierte, und das gilt ebenso für Volker Ludwig mit „Linie 1“ wie für die Neuköllner Oper.

Weitergedacht für deutsche Verhältnisse hieße das weniger ein Ruf an die Produzenten, sich mehr zu trauen, sondern viel eher eine deutliche Aufforderung an die Künstler, sich an die Produktionsmittel heranzuwagen. Das ist eine mühsame und nicht immer erfreuliche Aufgabe. Harold Prince hat selbst oft genug betont, wie anstrengend er die Produzentenarbeit findet. In seinem Fall hat sich die Mühe mehr als gelohnt.

Das liegt natürlich an seiner Beharrlichkeit, mit der er künstlerische Ziele auch gegen Widerstände durchgesetzt hat. Dass diese Widerstände sehr real gewesen sein müssen, kann man sich vorstellen. Bis ins welche Detail diese Widerstände gehen können, ist für europäische Künstler dahingegen fast unvorstellbar. Der Kampf um den letzten Satz des Conferenciés in der berühmten „Affennummer“ aus „Cabaret“ ist ein Interessenkonflikt von Kunst und Geld, wie er so nur am Broadway vorstellbar ist.

Wie schwer es ist, diesen Widerständen in Realitas zu begegnen, vergisst man leicht. Manch einer wird denken, mit einer „West Side Story“ auf dem Tisch hätte er auch die Kraft gefunden, ein so vielversprechendes Projekt durchzuboxen. Harold Princes Qualität liegt aber vielmehr darin, auch die „Merrily we roll alongs“ durchzustehen, und nach jedem Flop dennoch unangefochten weiterzumachen. Und eine seiner größten Qualitäten dürfte sein, sich zu gegebener Zeit auch einmal von einem künstlerischen Ziel zu verabschieden.

Der letzte Satz im „Affensong“ wurde in der Uraufführung auf Harold Princes Entscheidung hin bis zur Unkenntlichkeit entschärft. Das hat Harold Prince damals persönlich entschieden, und das ganz sicher gegen den Künstler in ihm. Genauso, wie er entschieden hat, den Satz in demselben Moment wieder hineinzunehmen, indem er es als Produzent verantworten konnte.

Diese Fähigkeit zum dualen Denken zeichnet Harold Princes Arbeit häufig aus und begegnet uns in vielen seiner künstlerischen Entscheidungen. Wie er es schafft, gleichermaßen an beiden Tischenden zugleich zu sitzen und mit sich selbst darüber diskutiert, was die Kunst darf und was das Geld verlangt, wird wohl sein Geheimnis bleiben. Dass diese Diskussion ob ihrer kurzen Wege sehr schnell und effektiv geführt wird, darf man annehmen. Dass sie der Kunst immens genutzt hat, ist offensichtlich.

Der Produzent als Künstler

Jede Kunstform wird geprägt von den Sachzwängen und wirtschaftlichen Bedingungen, unter denen sie entsteht. Das mag die Kunst gar nicht gerne hören, behauptet sie doch stets ihre angebliche Unabhängigkeit und legt viel Wert darauf, nicht bestechlich zu sein. Dass das Eine mit dem Anderen wenig zu tun hat, wird in Deutschland gerne vergessen. Mehr noch, die deutsche Theaterlandschaft fordert mittlerweile fast schon traditionell einen großen finanziellen Spielraum, um die Freiheit der Kunst garantieren zu können. Das führt hierzulande zugegebenermaßen zu viel künstlerischer Freiheit, aber nicht zwangsläufig zu Kunst.

Manchmal beschleicht einen das Gefühl, die Wechselwirkung könnte sogar genau umgekehrt sein.

Das amerikanische System entlässt seine Künstler wesentlich widerwilliger aus der finanziellen Verantwortung. Für europäische Verhältnisse sind die künstlerischen Kompromisse, zu denen ein amerikanischer Autor zugunsten einer erfolgreichen Show gezwungen werden kann, häufig beängstigend. Der Druck, den Finanziers und Produzenten auf die ausführenden Künstler ausüben, ist immens. Und nicht immer führt dieses große Mitspracherecht zu dem erwünschten Erfolg. Meistens führt es direkt in den Mainstream. Doch manchmal schaffen es finanzieller Druck und eben diese Mitverantwortung am Erfolg des Produkts, die Kunst aus ihrem Elfenbeinturm herauszulocken. Wenn dies gelingt, ohne die Kunst zu beschädigen, ist das ein sehr besonderer Moment. Harold Prince sind sehr viele dieser Momente gelungen.

Dass sie ihm gelungen sind, liegt zu einem guten Teil in der Tatsache begründet, dass Harold Prince beides ist: Produzent und Künstler. Dass eine solche Kombination für die jeweilige Produktion und damit für die Kunst ein Segen sein kann, haben wir eben festgestellt. Aber man kann noch weiter gehen: Dass der Regisseur Harold Prince von seinen Erfahrungen als Produzent auch künstlerisch profitiert hat.

Im Idealfall erzählt uns Kunst in überhöhter Form von der Welt, in der wir leben. In seiner Funktion als Produzent dürfte Harold Prince mehr Kontakt zu eben dieser Welt gehabt haben, als ihm manchmal lieb gewesen ist. Die Welt der Finanziers und Broadwayproduzenten muss nicht unbedingt ein reales Abbild unseres Alltags sein, aber als extremer Ausdruck einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft kann sie allemal hingehen. Ich glaube, es kommt nicht von ungefähr, dass Harold Prince zu Beginn seiner Karriere mit „Flora, the Red Menace“ und „The Pajama Game“ gleich zwei Musicals aus dem Gewerkschaftsmillieu produziert hat, in beiden Fällen mit deutlicher Sympathie für die Welt der Arbeiter. Die Zustände, die er in diesen beide Musicals beschreibt und kritisiert, waren ihm auf anderer Ebene mehr als geläufig.

Die Welt der Arbeiter dürfte ihm ansonsten nicht besonders vertraut gewesen sein. Für den Spross einer großbürgerlichen Familie, der bis zur Wirtschaftskrise mit Kindermädchen aufwachsen darf und seit seinem sechzehnten Lebensjahr nichts als Theater im Kopf hat, ist die politische und sozialkritische Themenwahl in seinen Musicals eher überraschend. Aber ein bürgerlicher Blick hat schon immer kritischer auf soziale Missstände geschaut als die Betroffenen selber. Das war bei Karl Marx nicht anders als bei Bertolt Brecht, dessen angeblichen Einfluss Harold Prince immer wieder von sich weist. Vielleicht ist es ganz einleuchtend, dass erst eine großbürgerliche Allgemeinbildung erlaubt, proletarische Missstände in Worte oder in Kunst zu fassen.

In der Welt der Proletarier hat sich Harold Prince wohl kaum bewegt. Aber er dürfte in seiner Tätigkeit als Produzent viele der Erfahrungen gemacht haben, von denen er später in sublimierter Form auf der Bühne erzählt. Und er kann darüber so aufrecht erzählen, weil er schwierigen Situationen und Produktionsbedingungen nicht aus dem Weg gegangen ist, sondern sie künstlerisch benutzt hat.

It’s a real world...

Dass schwierige Produktionsbedingungen der Kunst nicht unbedingt schaden und sie häufig sogar stärken, ist ein Allgemeinplatz. Wir alle trauern der künstlerischen Vitalität der goldenen zwanziger Jahren nach und wissen um die Bedeutung des Theaters in der DDR. Merkwürdigerweise entziehen wir uns den kapitalistischen Produktionsbedingungen auf eine eskapistische Art und Weise, die manchmal vermuten läßt, wir möchten von der Welt, in der wir leben, möglichst wenig wissen. Das mag unser gutes Recht sein, für die Kunst ist diese Entwicklung nicht ungefährlich.

Ich glaube, es kommt nicht von ungefähr, dass es in Deutschland an Ideen für neue Musicals vielleicht nicht mangelt, dass aber neunzig Prozent dieser Ideen historische Themen behandeln oder gleich in Mittelerde spielen. Das ist zwar noch nicht ganz so fatal wie in der modernen Oper, die sich mittlerweile ausschließlich mit dem Orpheusmythos und Shakespearebearbeitungen zufrieden gibt, aber von einer heutigen Stoffwahl sind wir in beiden Fällen weit entfernt.

Harold Prince hat in seiner langen Karriere kaum einen eskapistischen Stoff angefasst, und die meisten seiner Werke spielen im Hier und Heute. Das ist eine ebenso lapidare wie sensationelle Feststellung, und wenn es etwas gibt, womit Harold Prince nicht nur mich sondern mittlerweile zwei Generationen von Musicalmachern beeinflusst hat, dann ist es genau diese Entscheidung. Der Gattung Musical die Fähigkeit zuzutrauen, unsere heutige Welt abzubilden. Und mehr noch: Ihr diese Fähigkeit immer wieder abzufordern.

Politik auf der Bühne

Lasst uns ein Musical machen! Über das Dritte Reich! Über den Faschismus in Argentinien! Über die Progrome in Rußland! Das wird lustig!

Nicht? Nein, wahrscheinlich nicht. Und man kann sich vorstellen, was die Produzenten von „My Fair Lady“ und „Hello Dolly“ zu einem solchen Vorschlag gesagt hätten. Aber soweit muss man gar nicht gehen. Fragen Sie einen deutschen Intendanten, ob er bereit ist, eines dieser Themen auf die Bühne zu bringen. Kein Problem, wird er sagen. Als Musical? Nie im Leben.

Wie mutig Harold Prince in seiner Themenwahl war, merkt man erst, wenn man die Plots auf ihren Kern reduziert. Kein Mensch macht sich heute noch Gedanken darüber, ob „Cabaret“, „Evita“ und „Anatevka“ riskante Unternehmungen waren. Der Erfolg in mittlerweile dritter Generation rechtfertigt nachträglich jedes Risiko. Aber selbst heute noch heißt es oft genug: Erfolgreich trotz dieser schwierigen Themen. Umgekehrt muss es heißen: Erfolg wegen dieser schwierigen Themen. Und vor allem Erfolg in Deutschland.

Dennoch wagen wir uns hierzulande nicht in ähnlicher Form an dieses Gerne heran. Das ist auf eine Art schon fast abstrus. Harold Prince hat uns mehr als einmal bewiesen, dass das Musical diese Themen erzählen kann, ohne oberflächlich oder verfälschend zu werden. Und im Gegensatz zu vielen anderen amerikanischen Musicals kann man sich von dieser Tatsache täglich überzeugen. „Cabaret“ und „Anatevka“ gehören zum festen Repertoire jedes deutschen Stadttheaters, und „Evita“ tourt in sechsmonatigen Zyklen durch die ganze Bundesrepublik.

Trotzdem erwächst daraus keinerlei Erkenntnis seitens der Macher und Intendanten, auf diesem von Harold Prince eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Deutsches Musical heißt schwerpunktmäßig immer noch amüsanter Liederabend. Etwas tiefer gehängt in Form der allgegenwärtigen Fünfzigerjahrerevue und etwas höher gehängt fabriziert von Franz Wittenbrink.

Woher kommen diese deutschen Berührungsängste? Zugegeben, das musikalische Unterhaltungstheater ist 1930 bei der eskapistischen Revueoperette stehengeblieben, bevor das Genre von den Nazis rücksichtslos korrumpiert und zu Propagandazwecken übel missbraucht wurde. Das Erbe dieser Vergewaltigung ist ein unheiliges Misstrauen gegen alles, was sich im Vier-Vierteltakt bewegt, und dieses Misstrauen ist aus deutscher Sicht auch durchaus berechtigt.

Darüber hinaus kennen wir hierzulande bis auf die „Dreigroschenoper“ kein kritisch unterhaltendes Theater, das mit Mitteln der Musik politische Inhalte transportiert.

Aber immerhin: Die „Dreigroschenoper“ wird oft genug als Meilenstein deutscher Theatergeschichte bezeichnet. Was hindert uns daran, von ihr einen Bogen zu schlagen zu „Cabaret“ und vielleicht sogar zu „Evita“, um mit Hilfe dieses Importwissens vielleicht wieder an eine Entwicklung anzuknüpfen, die wir vor über fünfzig Jahren so gründlich und tödlich unterbrochen haben?

Importkultur

Neben Scham und gekränkter Eitelkeit mag dabei auch ein gewisser nationaler Stolz mitschwingen. Wir lassen uns doch nicht von so ein paar amerikanischen Kulturimperialisten vormachen, wie man Theater macht? Dass dieser dumme Nationalstolz in der Kunst nichts zu suchen hat, sollte eigentlich selbstverständlich sein. Harold Prince ist da wesentlich intelligenter.

Einer der Gründe, dass Harold Princes Werke in Europa überdurchschnittlich präsent und erfolgreich sind, ist seine Integrationsfähigkeit europäischer Theatertraditionen. Seine Werke sind uns auf eine eigentümliche Art vertraut, wir können sie besser lesen als viele andere Musicals. Seine Erzählweise ist im besten Sinne international, und das dürfte ein wichtiger Grund für seine weltweit marktbeherrschende Stellung sein.

Ohne jede Berührungsängste hat Harold Prince die europäischen Theatertraditionen durchforstet und alles ausprobiert, was ihm für die jeweilige Produktion nützlich erschien.

Von Brecht/Weill in „Cabaret“ über asiatisches Theater in „Pacific Ouvertures“ bis zum großen Illusionstheater des 19. Jahrhunderts in „Phantom of the Opera“ spannt sich sein künstlerischer Bogen, was ihm häufig genug entweder den Vorwurf der Beliebigkeit oder die Frage nach seinen künstlerischen Vorbildern eingehandelt hat. Harold Prince begegnet dieser Frage eher verständnislos. Brecht/Weill sind keine Vorbilder, sie sind schlicht und einfach eine funktionierende Theaterform. Warum diese nicht nutzen, wenn es denn die Sache weiterbringt?

Das ist natürlich ein zutiefst amerikanischer Gedanke, die Denkweise eines Einwanderungslandes. Alles, was funktioniert, wird integriert. Was nicht funktioniert, fliegt raus. Nun ist Harold Prince kein Mann der ersten Musical-Generation, die dieses Verfahren erfunden und damit in unglaublicher Unbefangenheit aus allen möglichen europäischen Einflüssen erst das Vaudeville und dann das amerikanische Musical geschaffen hat. Aber als Assistent der Broadwaylegende George Abbot dürfte er wie kaum ein zweiter seiner Generation direkten Zugriff auf die Erfahrungen dieser Männer der ersten Stunde gehabt haben.

Deren Aufbruchwillen und die Überzeugung, dass das Musical ein zutiefst lebendiges Medium ist, das jede nur mögliche Grenzerweiterung zuläßt, hat Harold Prince offensichtlich tief verinnerlicht. In einer Zeit, in der nach Rodgers und Hammerstein Lerner und Loewe zurück zur Operette a la Romberg gehen und Jerry Herman anfängt, die Extravaganzen der Ziegfeldfollies mit notdürftigen Handlungssträngen zu versehen, erinnert sich Harold Prince lieber an die erste Musicalbearbeitung eines Shakespearestoffes, die fünfzehn Jahre zuvor Musicalneuland entdeckt hatte: Rodgers und Harts „The Boys from Syracuse“.

Dass aus dieser Kernidee, Shakespeare für den Broadway zu erobern, gleich zwei so unterschiedliche Projekte wie die „West Side Story“ und „ Something funny happened on the way to the Forum“ entstanden, spricht ebenso für die künstlerische Neugierde des jungen Produzenten wie für seine Fähigkeit, zweigleisig zu denken.

Hier die Idee der Bearbeitung eines klassischen Stoffes, aber so modern und sozial aufgeladen, dass das Endergebnis mit dem Originalstoff wenig mehr als die Dramaturgie gemein hat, dort die liebevolle Hommage an des Genre des Vaudevillemusicals mit all seinen Abstrusitäten und Albernheiten. Dass er mit der hochmodernen „West Side Story“ einen der größten Musicalkomponisten in die Welt der Klassik verabschiedet und mit dem altmodischen „Forum“ den zukunftsträchtigsten Musicalkomponisten am Broadway einführt, entbehrt nicht einer gewissen künstlerischen Ironie, spricht aber einmal mehr für Princes unorthodoxe Neugier und führt beide Werke zum verdienten Erfolg.

Dass die „West Side Story“ im Jahr ihres Entstehens nicht als bestes Musical ausgezeichnet wurde, scheint im Rückblick unglaublich. Sondheim wird dieses Schicksal 1984 noch einmal widerfahren, wenn eines seiner mutigsten Werke, „Sunday in the Park with George“, den Tony an Jerry Hermans wesentlich konventionelleres „Cage aux Folles“ verliert. Das sagt einiges über die Risikobereitschaft des Broadways aus und wenig über die Langlebigkeit seiner Erfolge.

Harold Prince wird der Erfolg dennoch Bestätigung genug gewesen sein. Zumindest genug, um von da an den Glauben nicht mehr zu verlieren, dass Musical alles erzählen kann und dass es für dieses Genre keine ästhetischen oder inhaltlichen Grenzen gibt. Eine Entdeckung, der wir Deutschland offensichtlich immer noch äußerst misstrauisch gegenüber stehen.

She loves me

Jeder Mensch, der in New York zum Musical will, muss mindestens einmal im Leben seinen Lebensunterhalt als Kellner oder als Verkäufer bestreiten. Harold Prince ist, soweit ich weiß, darum herum gekommen. Ich nicht.

Während ich im Herbst 1989 darauf wartete, dass irgendein Theater mein Buch vom „Spielverderber“ nimmt, stand ich zwei Monate bei Karstadt in der Schallplattenabteilung und durfte den Stand mit den Sonderangeboten betreuen. Eine schreckliche Zeit, die den einzigen Vorteil hatte, das man stundenlang nach Schnäppchen im eigenen Sortiment stöbern konnte. Musicalplatten verirren sich in Deutschland selten auf den Grabbeltisch, aber ich wurde trotzdem fündig: Die Original Cast Aufnahme von „She loves me“, für ganze drei Mark. So billig bin ich nie wieder an ein großartiges Musical gekommen.

Erst viel später habe ich erfahren, dass dieses Stück, welches zu Harold Princes Lieblingsproduktionen gehört, damals am Broadway nicht den erhofften Erfolg hatte, was ich bis heute nicht begreife. Was ich auf der Aufnahme höre, ist eine Kette von wunderbar clever komponierten Nummern, jede für sich ein brillantes Charakterstück, das Person und Situation in drei Minuten auf den Punkt bringt. Und damit ganz hervorragendes Auditionsmaterial, das ich meinen Studenten immer wieder wärmstens empfehle.

Aber auch die Geschichte gefällt mir. Die Idee, eine musikalische Komödie ohne jede Überhöhung in einem ganz konkreten und realen Setting spielen zu lassen, ist nicht ohne Risiko. Musik macht alles größer, breiter und oft auch schöner als im wahren Leben, und nicht umsonst spielen die meisten Musicals bei den Schönen und Reichen, in Siam oder auf Hawaii, von der Operette ganz zu schweigen. Was irgendwann dazu führt, dass ein Publikum von einem Musical, das ausschließlich in einer Parfümerie spielt, enttäuscht sein mag, weil diese Parfümerie nicht auf Hawaii liegt.

„She loves me“ erinnert mich im besten Sinne an die kleinen Boulevard-Operetten von Eduard Künnecke und Ralf Benatzki, die Anfang der dreißiger Jahre tapfer versucht haben, diesem Genre noch etwas anderes abzuringen als Leanderschen Durchhaltewillen und Rökksche Dauerfröhlichkeit. Das ist ihnen damals sehr gut gelungen. Vergessen worden sind sie leider trotzdem. Umso neugieriger habe ich mir diesen neuerlichen Versuch, kleine Leute überzeugend singen zu lassen, angeschaut.

Kleine Leute singen zu lassen, ist in Deutschland nicht einfach. Kleine Leute haben angeblich kleine Probleme und kleine Gefühle, und beides paßt nicht so recht zum Musiktheater, wo die Gefühle gerne drei Oktaven haben sollten. Doch das ist ein zutiefst deutsches Phänomen. Die Amerikaner haben nie aufgehört, daran zu glauben, dass auch der Mensch von nebenan sich musikalisch ausdrücken kann. Das Genre Musical zieht sogar einen Hauptteil seiner Kraft daraus, dem normalgroßen Sterblichen auf der Bühne eine Stimme zu geben. Das war bei fast allen Sternstunden des amerikanischen Musicals so, ob mit „Ol‘ Man River“, in „Showboat“ über „Oklahoma“ und „Annie get your gun“ bis zu „A Chorus Line“ und „Rent“.

Das deutsche Musiktheater hat da eine andere Tradition. In direkter Linie von singenden Barockkönigen über Germanengötter bis zur „Csardazsfürstin“ scheint adelige Abstammung eine Voraussetzung für musikalische Ausdrucksmöglichkeit zu sein, und auch hier ist die „Dreigroschenoper“ die einzige löbliche Ausnahme. Aber die ist ja auch ein Kulturimport aus England.

Einen glaubwürdigen musikalischen Ausdruck für Menschen von heute zu finden, ist meiner Meinung nach die existenziellste Aufgabe, wenn man ein modernes Musiktheater schaffen will. Dass kleine Menschen keine großen Probleme haben, ist natürlich nicht wahr. Aber wie drücken sie ihre großen Gefühle aus, wenn ihnen intellektuell nicht der entsprechende Hintergrund zur Verfügung steht?

Die Sorgfalt, mit der hier gearbeitet werden muss, lässt sich an den Stücken von Harold Prince gut studieren. Dies verlässt natürlich den eindeutigen Einflussbereich eines Produzenten und Regisseurs, aber in Anbetracht der Tatsache, dass Prince eigentlich am liebsten Autor geworden wäre, ist zu vermuten, dass er sich häufig genug mit der Angemessenheit von Text und Musik auseinandergesetzt hat. Die vielen Anekdoten, die es zu diesem Thema gibt, sprechen jedenfalls dafür.

An dieser Stelle kommt Stephen Sondheim ins Spiel. Mit kaum einem Autoren und Komponisten hat Harold Prince so energisch daran gearbeitet, die Grenzen des Genres zu erweitern, und ich glaube nicht, dass es zu weit geht, Sondheims Qualität und seine Errungenschaften auf dem Gebiet des Textens direkt mit Harold Prince in Beziehung zu setzen. Seit sich Prince und Sondheim 1949 auf der Premiere von „South Pacific“ kennengelernt haben, sind aus dieser Freundschaft und Arbeitsgemeinschaft die für mich persönlich wichtigsten und prägendsten Musicals entstanden. Werke, die in ihrer klugen Brillanz, ihrer dokumentarischen Qualität und ihres künstlerischen Ernstes wegen einen wirklichen Weg in die Zukunft des Musicals weisen.

Sondheims Ausführungen zum Schreiben von Lyrics hat mich sehr beeindruckt. Ähnlich wie Prince von Abbot, wurde Sondheim von Oscar Hammerstein II künstlerisch adoptiert und mit einer fundierten Grundausbildung in Sachen Musical ausgestattet. Gleich seine erste erfolgreiche Arbeit, zu Sondheims großem Kummer keine eigene Komposition, sondern lediglich die Texte zur „West Side Story“, ist ein Paradestück an Angemessenheit und kluger Unterscheidung von Alltagssituation und musiktheatralischer Überhöhung. Wie Sondheim das Kleine mit dem Großen zusammenzwingt und daraus immer wieder Bilder entwickelt, die in aller Einfachheit nie simpel werden, hat für mich großen Vorbildcharakter.

„This World was just an address, becoming now a star.“ Das ist einfach, berührend, dem Wortschatz der Figuren angemessen, hat Größe und auch noch Humor. So komplex in zehn Worten möchte man auch einmal sein. Und dass Maria in „I feel pretty“ nach „I feel witty“ auf keinen Fall noch einmal reimen darf, weil das ein einfaches puertoricanisches Mädchen sprachlich nicht könnte und deswegen mit „and gay“ aus dem Reimschema ausbricht, gehört zu meinen ganz wichtigen Lektionen, die ich als Texter gelernt habe.

Diesen Anspruch, dem Darsteller in Menschengröße eine angemessene Sprache und eine Musik zu geben, sähe ich in Deutschland gerne häufiger erfüllt. Da wimmelt es bei uns von Fantasygestalten oder Rockbands, die sich selber spielen, und wenn mal ein Musical über den Mauerbau auf die Bühne kommen soll, kriegt der junge Mann aus dem Osten so ziemlich jede Synthie-Geige zur Verstärkung, derer man habhaft werden konnte. Das macht eine Masse her, aber sagt ziemlich wenig aus. Natürlich ist es schwer, für den heutigen Menschen in seiner postmodernen Beliebigkeit eine definitive Musik zu finden. Aber Prince und Sondheim ist es 15 Jahre nach der „West Side Story“ mit „Company“ fulminant gelungen. Es geht also. Man muss es bloß üben.

I feel a song coming up

Zwischen „She loves me“ und „Company“ liegen sieben Jahre. Trotzdem hat man das Gefühl, diese beiden Musicals stammen aus völlig verschiedenen Zeiten. Die musikdramaturgischen „Entdeckungen“, die Prince in diesen wenigen Jahren mit seinen sehr unterschiedlichen Teams gemacht hat, haben das Musical in sehr kurzer Zeit sehr weit vorangebracht. Woran liegt das?

Harold Prince hatte das Glück des Tüchtigen, mit sehr unterschiedlichen Autorenteams zu arbeiten. Und eine seiner großen Qualitäten dürfte es sein, jedes dieser Teams dramaturgisch völlig verschieden einzusetzen. Während er mit Bock und Sheldon und deren Talent zum geraden, volkstümlichen Ton den „Fiddler on the Roof“ als klassisches Bookmusical in der Tradition von Rodgers und Hammerstein zum Welterfolg machte, ermutigte er Stephen Sondheim nach dem Flop von „Anyone can whistle“ dazu, weiter an aktuellen Stoffen zu arbeiten, eine weitsichtige Entscheidung, deren künstlerische Risikobereitschaft mit „Company“ und „Follies“ schließlich reichlich belohnt wurde.

Mit seinem dritten Team, Kander und Ebb, mit denen er 1963 das ebenfalls noch konventionelle Bookmusical „Flora, the red Menace“ produziert hatte, verfuhr Prince anders.

Hatten sowohl Bock als auch Sondheim ihren jeweils sehr eigenen, aufrichtigen und menschlichen Ton für ihre Figuren gefunden, sind Kander und Ebb, ähnlich wie Jerry Herman, zwar großartige Hitlieferanten, zeichen mit ihren Songs aber kaum Bühnencharaktere und sind musikalisch definitiv in den späten zwanziger Jahren stecken geblieben. Ihr größten Erfolge sind deutliche Hommagen an eine Zeit des Broadways, die in der Dekade von „Hair“ und „A Chorus Line“ völlig unzeitgemäß wirken. Wie Harold Prince dieses Defizit erspürt und durch Stoffwahl und Musikdramaturgie zum künstlerischen Vorteil ummünzt, ist beeindruckend. Und ganz nebenbei erfindet er eine neue Form des Musiktheaters - das Concept Musical.

Der Einsatz der Songs in „Cabaret“ ist ebenso naheliegend wie revolutionär. Die Entscheidung, die Musik auf zwei Ebenen, auf der privaten der handelnden Personen und auf der kommentierenden des Conferenciés, einzusetzen, erscheint im Rückblick so einleuchtend, dass man sich wundert, wie lange Prince mit seinem Autorenteam gerungen hat, um für „Cabaret“ diese letztendlich so erfolgreiche Form zu finden.

Natürlich haben Kander und Ebb gemeinsam mit Harold Prince diese Art, Songs unterschiedlich einzusetzen, nicht erfunden. Auch in den klassischen Musicals kann man grundsätzlich zwischen emotionalen und kabarettistischen Nummern unterscheiden, und spätestens seit Brecht ist das kommentierende Lied fester Bestandteil der Musiktheaterdramaturgie. Aber vielleicht müssen solche latent vorhandenen Möglichkeiten immer erst in einem Werk quasi in Reinform umgesetzt werden, um ihrer wirklichen Optionen gewahr zu werden. Dies ist in „Cabaret“ geschehen.

Diese Technik der zwei Ebenen schafft mehr als die Summe ihrer Teile. Nicht allein, dass der jeweilige Ebenenwechsel die Spannung erhöht und die Geschichte dadurch komplexer erzählt werden kann. Auch die einzelnen Nummern profitieren davon, dass sie dramaturgisch durch die nächste Nummer wieder konterkariert werden. Am deutlichsten wird das bei dem Titelsong des Musicals, der als Nummer für sich genommen eine schlichte Durchhaltehymne aus der Welt des Showbiz ist und von allen möglichen Alleinunterhalterinnen auch gerne so dargeboten wird. Wenn man weiß, dass dieses Lied sich auf Sally Bowles soeben erfolgte Abtreibung bezieht, bekommt die ganze Nummer einen doppelten Boden, der in keiner Weise in der Musik, sondern ausschließlich in der Story, und in Harold Princes originaler Regie, zu finden ist.

Harold Prince hat dem Musical durch diese Trennung von Song und Situation ein großes Stück Neuland erobert, wobei das Wort „Neuland“ nicht ganz korrekt ist. Die frühen Werke der Gattung Musical sind häufig Paradebeispiele für künstlerische Inkongruenz und die daraus erwachsenden erzählerischen Freiheiten des Musiktheaters. Wenn zum Beispiel Gershwin seine emotionale Ballade „The Man I love“ mitten in die grotesken Umstände eines Käsekrieges zwischen Amerika und der Schweiz platziert, ist das überaus unangemessen und entwickelt genau in dem Moment eine große dramaturgische Kraft. Ob diese wirklich künstlerisch geplant war oder ob es sich dabei nicht doch eher um einen musiktheatralischen Zufallsfund handelt, sei dahingestellt. Harold Prince zumindest hat die Kraft dieser zwei sich widersprechenden Ebenen nicht zufällig genutzt, sondern sehr bewusst in „Cabaret“ eingesetzt, und damit dem Musical ein Handwerkszeug mit auf den Weg gegeben, dass aus heutigen modernen Werken kaum mehr wegzudenken ist.
Die Entscheidung, die Songs in „Cabaret“ in kommentierende und handlungsbezogene Situationen aufzuteilen, deutet ein latentes Misstrauen dem authentisch singenden Menschen gegenüber an. Endgültig offensichtlich wird dieses Misstrauen in der grandiosen Verfilmung, wo alle handlungstragenden Songs eliminiert bzw. zur Schellackhintergrundmusik degradiert wurden. Dass Harold Prince gleichzeitig am Projekt „Company“ arbeitete, Sondheims erfolgreichem Versuch, moderne New Yorker auf der Bühne singen zu lassen, beweist einmal mehr seine Fähigkeit, sich dem Genre Musical von mehr als einer Seite zu nähern.

„Company“ ist für mich eines der wichtigsten Musicals der letzten fünfzig Jahre. Und das umso mehr, da ich dieses Stück, als ich es das erste Mal in der deutschsprachigen Uraufführung des Theater des Westens, ganz entsetzlich fand. Mit Anfang zwanzig mochte ich mich mit der Botschaft dieses Stückes ganz und gar nicht anfreunden. Die pessimistische Perspektive, mit dreißig genauso frustriert und alleine meinen Geburtstag zu begehen, fand ich empörend negativ, und das camouflagehafte „Being Alive“, das auf Produzentengeheiß an diesen gruseligen Großstadtreigen geklebt worden war, glaubte ich ebenso wenig wie wahrscheinlich Stephen Sondheim selber.

Achtzehn Jahre später kann ich bestätigen, dass Sondheim mit seiner Diagnose über Beziehungsformen in der Großstadt mehrheitlich recht behalten hat, und was 1970 New York bewegt hat, gilt im Jahre 2000 jetzt auch für Berlin. Dass ausgerechnet ein Musical es schaffen kann, ein so genaues und ehrliches Tagebuch über eine Zeit zu führen und damit späteren Generationen zu erzählen, wie es einmal am Ende des letzten Jahrhunderts bei uns ausgesehen hat, finde ich eine unglaubliche Leistung. Und ein solches „Tagebuch“ zu sein, ist für mich immer noch vornehmste Aufgabe der Kunst. Diese Aufgabe hat im letzten Jahrhundert fast ausschließlich der Film übernommen. Ich persönlich freue mich sehr, dass es mit „Company“ zumindest ein Werk des Musiktheaters gibt, dass ehrlich und wahr Auskunft über uns gibt. Weniger freue ich mich darüber, dass mir außer „Company“ kein anderes einfällt. „Cats“ wird es bestimmt nicht sein. „Linie 1“ vielleicht...

Von Katzen und Phantomen

„Cats“ hat Harold Prince nicht produziert. Das wundert wenig. Wie gesagt, Harold Prince hat eskapistische Stoffe in seinem Leben ungerne angefasst, und meistens gab der Misserfolg, seinem Instinkt Recht.

Aber nachdem Andrew Lloyd Webber und er sich über den Welthit „Evita“ kennengelernt hatten, überraschte Prince die Musicalwelt mit dem für ihn so untypischen „Phantom of the Opera“. Ein historisches Sujet, in das man mit viel gutem Willen das Sozialdrama der ausgestoßenen Kreatur hineinlesen kann, aber wenn man dem Werk und Prince einen Gefallen tun will, läßt man das lieber bleiben.

Musicalpuristen auf der ganzen Welt teilen sich säuberlich in Webberianer und Sondheimerianer, und dies ganz besonders sorgfältig in Deutschland. Dass nun ausgerechnet die Musicalikone Harold Prince sich um diesen Glaubenskrieg keinen Deut schert, zeugt einmal mehr von Princes wunderbar breitem Horizont, der den der übrigen Branche nur umso enger erscheinen lässt.

Dabei ist es so naheliegend, dass ein Künstler wie Harold Prince sich Andrew Lloyd Webbers naiven Glauben an den singenden Menschen nicht entgehen lässt. Ob das nun das Auge des Produzenten ist, das die Erfolgschancen des Melodikers Webber richtig einschätzt oder ob es den Künstler Prince gejuckt hat, an die Form des Musiktheaters anzuschließen, die er ähnlich pur das letzte Mal mit „Fiddler“ auf die Bühne gebracht hatte, und für die ihm mit Sheldon Harnicks Tod das adäquate künstlerische Team zerbrochen war, sei dahingestellt.

In jedem Fall ist Princes Zugriff auf „Phantom“ wie immer stilsicher und angemessen. Diesmal bedient er sich nicht bei Brecht, Sondheim scheint Lichtjahre entfernt und „Cabaret“ hat es offenbar nie gegeben. Zielsicher steuert Prince mitten ins neunzehnte Jahrhundert, plündert den kompletten Brarockbühnenfundus und lässt den berüchtigten Kronleuchter aufs Publikum los. Den Bustouristen gruselts wohlig, und der Prince-Fan schaudert ebenfalls, wenn auch aus etwas anderen Gründen. Den Meister dürfte beides gleichermaßen freuen.

Einmal mehr hat Harold Prince bewiesen, dass er sich nicht in eine Schublade stecken lässt.

Und auf dass dieser Eindruck erhalten bleibt, meldet sich Prince danach mit einem fast schon doyenhaften „Show-Boat“-Revival sowie dem neuen Shootingstar Jason Brown und seinem dunklen Musical „Parade“ an den Broadway zurück. Mister Prince ist nicht zu fassen.

Back to Berlin

Mister Prince ist nicht zu fassen. Der Eindruck bestätigt sich, nachdem wir den Meister zwei Tage live in der Neuköllner Oper erleben durften. Scheinbar rundum zufrieden mit sich und der Welt, sitzt Harold Prince trotz beunruhigender Nachrichten über die kanadischen Tryouts seines neuen Sondheim-Musicals auf dem Podium und lässt sich von seinem Biographen Foster Hirsche Begebenheiten aus seinem Leben soufflieren, die er allesamt in höchst lehrreiche und amüsante Anekdoten verwandelt. Schwierigkeiten scheint es nur gegeben zu haben, um sie zu überwinden. Jeder Flop war im allerschlimmsten Fall der Anlass zu dem folgenden, noch größeren Hit, und wenn man es nicht besser wüsste, käme man fast zu der Überzeugung, der einzige Schlüssel zum künstlerischen Erfolg sei die geradezu homerische Gelassenheit, die Harold Prince ausstrahlt.

Einer der Schlüssel zu seinem Erfolg ist diese Gelassenheit bestimmt. Princes Begabung lag immer auch darin, die richtigen Leute in den richtigen Projekten zusammenzubringen. Dass er als Produzent über die nötigen Mittel und als Mensch über die nötige Ruhe und das nötige Charisma verfügte, ist ein Glück gewesen für das Musical. Aber das kann man leider nicht lernen, und so lehnen wir Professionellen im Publikum uns mit leisem Bedauern zurück und versuchen, nicht allzu neidisch auf diese unglaubliche Biographie zu sein.

Aber Princes Persönlichkeit ist nicht der einzige Schlüssel; Sein unverrückbarer Glaube an die Möglichkeiten des Genres, sein künstlerischer Horizont, der in seinem umfassenden Wissen über das Musical und das Theater an sich begründet liegt und immer wieder sein Mut und sein Wille, heutig zu erzählen - das sind Eigenschaften, die man sich sehr wohl bei diesem „Grand Old Man“ des Broadways abgucken kann. Man kann sie keine Sekunde nachmachen, sondern muss sie jeden Tag neu finden und erobern, und das, was wir dabei vielleicht finden werden, wird nie im Leben so aussehen wie das, was Harold Prince in den letzten fünfzig Jahren gefunden hat. Aber wenn man diese drei Koordinatenachsen beherzigt: Musiktheater hat eine Geschichte, Musiktheater hat eine Gegenwart, und Musiktheater hat eine Glaubwürdigkeit - dann wäre für das deutsche Musical schon viel gewonnen.

Große Worte, die sich ein Harold Prince mit seinen mindestens zehn Welterfolgen ruhigen Gewissens leisten kann. Einem selber wird bei solchen Beschwörungen fast schon mulmig. Schließlich geht es hier doch nur um Musical. Aber auch das kann man von Harold Prince lernen: Die Überhöhung in die Kunst muss man zuallererst einmal wagen, bevor man an ihr scheitert. Und auch darin ist Prince ein wahrer Meister: Ohne Scheu vor Ideologie und großen Worten hinein ins Abenteuer, relativieren kann man hinterher immer noch. Warum auch nicht? Dafür spielen wir Theater.

Und das tun wir jetzt auch. Das Symposium ist zu Ende, und zum krönenden Abschluß gibt es noch eine Vorstellung: „Panik Sound Club“, unsere letzte Uraufführung, die sich ihre Dramaturgie bei „Company“ ausgeliehen und ihre Simultanbühne bei „Cabaret“ geklaut hat.

Und was macht Harold Prince? Er guckt zu. Aber wie!

Wenn er etwas nicht verstehen sollte, merkt man es ihm zumindest nicht an. Wenn er etwas nicht sehen kann, wechselt er in Windeseile den Platz. Und ob ihm etwas gefällt oder nicht, merkt man auf zehn Meter Entfernung. Gott sei Dank gefällt ihm ziemlich viel. Harold Prince ist trotz Überseeflug, Schlafentzug und „Bounce“-Endproben hellwach. Und neugierig. Mein Gott, ist dieser Mann neugierig.

Ob Harold Prince in den letzten zwanzig Jahren ein Vorbild für mich war, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, dass seine Arbeit immer wieder eine Qualität erreicht hat, an der sich zu messen mich immer wieder weitergebracht hat. Und in einem ist er seit seinem Besuch in der Neuköllner Oper absolut ein Vorbild. So neugierig möchte ich mit fünfundsiebzig auch noch sein.